10 Jahre Kammersprechchor Zürich (1961) PDF Drucken E-Mail
Darf man es Zufall nennen, dass die Gründung des Kammersprechchors Zürich vor nunmehr zehn Jahren eng zusammenhängt mit einem Musikwerk? Ohne Zweifel hat der Wille zur Aufführung des epischen Oratoriums «Thyl Claes» des seit langem in der Schweiz beheimateten Komponisten Wladimir Vogel den unmittelbaren Anstoss gegeben. Die anspruchsvolle Schöpfung hatte sich in der Französischen Originaisprache unter Ernest Ansermet in Genf sowie unter Franz André in Brüssel und am Maggio Fiorentino bewährt, wobei der Brüsseler Sprechchor »Renaudins» zur Verfügung stand. Als das Studio Zürich des Landessenders Beromünster die Absicht bekundete, «Thyl Claes» in deutscher Sprache aufzuführen, fehlte dem damaligen Programmleiter (und heutigen Intendanten der Hamburger Staatsoper) Rolf Liebermann ein Entscheidendes, ein allen Ansprüchen gewachsener Sprechchor.

Da er nicht vorhanden war, wurde er gegründet. Der Weg führte über Basel, wo Wladimir Vogel im Ehepaar Professor Dr. Oskar Müller und seiner Gattin Anna, geborene Widmann, seit Jahren bewährte Freunde besass. Widmann? Der Name weist auf den Dichter und «Bund»-Redaktor J. V. Widmann, den Grossvater, aber auch auf den schriftstellerisch ebenfalls begabten Max Widmann, den Vater der beiden Töchter Ellen und Anna. Während dieser das Fördern von Musikern und Malern Freude bereitet, hat Ellen Widmann Jahrzehnte lang, oft an der Seite ihres Gatten, des Regisseurs und Schauspielers Adolf Manz, an ersten deutschen Bühnen gewirkt, ist dann in die Heimat, nach Zürich zurückgekehrt, wo sie alsbald eine umfassende Tätigkeit als vielbegehrte Darstellerin und nicht minder geschätzte Pädagogin entfaltete. Wenn eine Künstlerin dazu prädestiniert war, einen Sprechchor ins Leben zu rufen, dann gewiss Ellen Widmann. Sie brachte dazu die entscheidenen Eigenschaften mit: die ausgeprägte Persönlichkeit und die hohe Sprachkultur und wusste um sich eine vielleicht noch nicht ausgebildete, doch gut vorgebildete Schülerschar, die sie tief verehrte. Sie hatte sich zudem mit den Problemen der Sprechchöre bereits befasst, sagte darum so gleich zu und sah sich plötzlich in der Lage, «ihre seit langem gehegte Idee des Chorsprechens, das jahrelang zu politischen Zwecken missbraucht worden war, wieder auf eine künstlerische Ebene zu heben und vom einstimmigen Gebrüll zu einem viel stimmig verwobenen, polyphonen Klang zu bringen, zu verwirklichen».

Bis es so weit war, verging indessen noch eine gute Weile. Sprechen, auch künstlerisches Sprechen, hat zwar mit der Musik manches gemein: Rhythmus und Klang spielen hier wie dort eine Rolle. Doch wie weit entfernt ist solch «gehobenes Reden» vom mit der Tonkunst Verbundenen, ja Verwachsenen, wie Wladimir Vogel es in «Thyl Claes» verlangt! Er selber musste darum die Voraussetzungen für den allen Beteiligten fremden Stil schaffen. Er griff bewusst auf Bekanntestes, auf Friedrich Schillers «Lied von der Glocke», dessen Anfang er zu einer Studie für Sprechchor wählte. (Dass aus dieser Skizze dereinst eines seiner originellsten Werke werde, wusste er vermutlich damals selber noch nicht.) Zuvor schon hatte Ellen Widmann ihre Zöglinge an klassischen Chören, voran an den Hexenchören in Henrik Ibsens «Peer Gynt», geschult: doch sah sie selber ein, dass damit für den notierten Sprechchor nicht alles zu erreichen war. Es musste die musikalische Interpretation hinzukommen. Als man sich der Realisierung von Vogels «Thyl Claes» zu nähern begann, stellte sich als erster Dirigent Studienleiter Paul Gergely vom Stadttheater Zürich zur Verfügung. Ihn löste bald ein angehender Kapellmeister ab, der von Anfang an im Chor mitgewirkt hatte, Fred Barth, der 1953 zum alleinigen musikalischen Leiter ernannt wurde.

Ihm steht ein Ensemble zur Verfügung, das sich mit einem Gesangschor vergleichen lässt, mit ihm aber längst nicht identisch ist. Es setzt sich aus hohen und tiefen Frauen- und Männerstimmen zusammen, denen — und das ist der grosse Unterschied im Vergleich mit einem Vokalensemble — jedoch keine absoluten Tonhöhen vorgeschrieben werden. Die Texte sind zwar in der gewöhnlichen Notenschrift aufgezeichnet, doch «wird nur die relative Höhe der Silben zueinander notiert, das heisst die Modulation des gesprochenen Satzes. Der Rhythmus ist meist nicht nur ein musikalisches Element, sondern unterstützt den Ausdruck des Textes».

Mit diesen bereits in den ersten Werken mit Sprechchor festgelegten und entwickelten Prinzipien hat Wladimir Vogel nicht nur die Basis der Sprechchortechnik festgelegt, sondern zugleich ein neues Element in die zeitgenössische Musik hineingetragen. Vor ihm schon hat der grosse französische Komponist Darius Milhaud den Sprechchor als künstlerisches Mittel verwendet; seine beträchtliche Entwicklung in verschiedenen Ländern dagegen verdankt er der Ausgestaltung durch Vogel.

Ihm wie den unabschätzbaren Anstrengungen des Kammersprechchors Zürich. Dieser hat zu allen hierher gehörigen Werken Vogels beigetragen, wobei sich eine schöne Wechselwirkung zwischen dem Schaffenden und den Nachschaffenden ergab. Noch immer ist das zweiteilige Oratorium «Thyl Claes» das umfassendste Werk, in dessen Mittelpunkt ein Sprechchor als Interpret steht. Aber auch die in weiteren Schöpfungen gewichtig mitspielenden Sprechchöre sind durch die Zürcher wiederholt vermittelt worden, so im Chorwerk «Wagadus Untergang durch die Eitelkeit» (Text nach der Sammlung «Märchen der Kabylen» von Leo Frobenius). in der «Arpiade» (nach Gedichten von Hans Arp), im späteren Oratorium «Jona ging doch nach Ninive» (Text nach Martin Bubers Bibelübersetzung). Ein selbst bei Vogel bisher allein dastehender Versuch folgte 1959 mit der Vertonung, besser «Versprechung», der ganzen Schillerschen «Glocke»; der zur Zeit der frühen Zusammenarbeit mit dem Kammersprechchor Zürich gelegte Keim hat sich hier bewundernswert entfaltet: «Vogel zieht darin die letzten Konsequenzen, indem er auf jegliche sonstige akustische Zutaten verzichtet und sich mit der Sprechstimme allein begnügt. Nur gelegentlich erhebt sie sich zu gesungenem Klang und fügt damit dem ‚Schwarzweiss‘, wenn man so sagen kann, eine Farbe zu. Ansonst müssen Sprache und Laut den ganzen Bedarf an Ausdrucksmitteln decken, und da ist es denn erstaunlich, was allesVogel aus den begrenzten Mitteln herauszuholen vermag. Er wertet den Rhythmus bis ins letzte aus, setzt die Solostimme ebensooft ein wie die Chorstimme, vermischt die beiden, bringt raffinierte Ueberschneidungen und Wiederholungen an und erzielt eine erstaunliche Variabilität des Klanggeschehens. Und dennoch wird der ‚Gang der Handlung‘, wird das Glockenschicksal verständlich nachgezeichnet: das Erzählerische des Gedichtes bleibt erhalten.»

Mit diesen Impressionen im unmittelbaren Anschluss an die Uraufführung der «Glocke» im Radiostudio Zürich dürfte deutlich geworden sein, welch eminente Anforderungen an die Interpreten gestellt werden. Der Kammersprechchor Zürich konnte damals freilich bereits auf eine jahrelange Erfahrung in seinem Sonderbereich bauen. Doch schon bald nach dem ersten Auftreten 1952 wurde man weitherum in Europa auf das in seiner Art beinahe einzigartige Ensemble aufmerksam. Der Norddeutsche Rundfunk in Hamburg, der Westdeutsche in Köln, der Süddeutsche in Baden-Baden luden es ein, und zum Mitwirken bei den internationalen Festspielen in Berlin und Wien wurde es ebenfalls aufgefordert. Auch nach Italien wurde es berufen, nach Mailand und Rom, wo es neben Werken von Vogel solche von Boris Blacher, Mauricio Kagel, Darius Milhaud und andern zu grossen Erfolgen verhalf. Zu einem weiteren Höhepunkt wurde das Mitwirken bei den denkwürdigen szenischen Uraufführungen von Arnold Schönbergs Oper «Moses und Aron» im Stadttheater Zürich im Rahmen des Weltmusikfests der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik 1957.

Schüler haben sich durch das Beispiel ihres Lehrmeisters Vogel anregen lassen und ebenfalls Chöre für den Kammersprechchor komponiert. Neben solchen auf ihn zugeschnittenen Arbeiten befasst sich das Ensemble ferner mit klassischen Werken, beispielsweise «Oedipus» und «Antigone» von Sophokles, aber auch anderen, wobei ihm die Erfahrungen auf musikalischem Gebiet sehr zustatten kommen. Bei der Aufnahme seiner Tätigkeit hat der nunmehr bereits auf das erste Jahrzehnt des Bestehens zurückblickende Kammersprechchor Zürich sich im wesentlichen aus Schülerinnen und Schülern von Ellen Widmann bestanden. Die schon erwähnte einheitliche Ausbildung bedeutete zu Beginn der Arbeit eine beträchtliche Erleichterung. Indessen ist es das Schicksal aller Pädagogen, dass gerade die begabtesten unter ihren Zöglingen sie verhältnismässig rasch verlassen, um selbständig weiterzuwirken. Noch immer bilden den Stock des Chors angehende Schauspielerinnen und Schauspieler, doch genügt ihre Zahl längst nicht mehr. Vertreter der verschiedensten Berufe, junge Kaufleute und Sekretärinnen, Lehrer, Studenten, Musiker gesellten sich im Verlaufe der Jahre zu ihnen: lauter Idealisten, die bereit waren, grosse Opfer an Zeit und Geld zu bringen; denn lange standen den namhaften Ausgaben kaum nennenswerte Einnahmen gegenüber. Der stete Wechsel in der Besetzung bringt es zudem mit sich, dass nicht nur jedes erstmals in Angriff genommene Werk, sondern dass jede einzelne Aufführung völlig neu einstudiert werden muss, soll dem Chor die ihn auszeichnende Perfektion erhalten bleiben. Ein Beispiel für viele: zur Uraufführung der «Glocke» waren hundert Proben nötig. Solch aussergewöhnlicher Einsatz ist nur möglich, wenn aussergewöhnliche Persönlichkeiten an der Spitze stehen: der Dirigent Fred Barth, namentlich aber die grosse, verantwortungsbewusste Künstlerin Ellen Widmann, die keine Mühe scheut und über all die reichen menschlichen und künstlerischen Mittel gebietet, eine Schöpfung in möglichster Vollkommenheit zur Darstellung zu bringen.

Hans Ehinger.

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