Das Phänomen Sprechchor PDF Drucken E-Mail

«Wir sind das Volk!»

Ursprung und Blütezeit des Sprechchors

Der Sprechchor hat einen wilden Bruder, der sich nicht aus langer, vorbereitender Arbeit speist. Dessen Text hat oft einen anonymen oder kollektiven Autor und ist so kurz, dass er sich innert Sekunden lernen lässt. Die Akteure kommen mehr oder weniger zufällig zusammen: Im Fussballstadion wie an der politischen Demonstration skandieren Menschen, die sich nicht kennen, im Chor einen Text, dessen Erfolg stark von der Menge der Chormitglieder und ihrem emotionalen Engagement abhängt. Nicht nur Tore werden mit seiner Hilfe geschossen. Die wohl bekannteste Aufführung der letzten Zeit hat ein Regime gestürzt.

«Wir sind das Volk!» Der hochwirksame Sprechchor für Hunderttausende von Mitwirkenden hat ein Regime zu Fall gebracht, das ironischerweise in direkter Verbindung zur Blütezeit des Sprechchors stand. In der Weimarer Republik brach nämlich in der Arbeiterbewegung unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg eine regelrechte Sprechchoreuphorie aus. Die sozialistischen Sprechchöre sollten Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft sein: Wie aus den dithyrambischen Chören des antiken Griechenlands das Theater der attischen Demokratie entstanden sei, so entstehe im gesellschaftlichen Umbruch die neue Kultur aus dem Sprechchor. So zumindest stellte sich das Johannes Robert Becher vor, später Kulturminister der DDR. Auch Wladimir Vogel, der den Sprechchor in die klassische Musik einführte, partizipierte an dieser Bewegung, an der «Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger», komponierte Arbeiterlieder und schrieb Artikel revolutionärer Arbeitermusikzeitschriften.

Der Chor hat einen hohen Symbolwert, wo er auftaucht, geht es um die Vielen, «das Volk», und ihr Verhältnis zum Individuum. Und der Sprechchor scheint besonders geeignet, da er noch stärker die Wechselwirkung von Wir und Ich, Einzelnem und Gemeinschaft thematisiert. Denn es gibt beim Sprechchor eine individuelle Freiheit in der Gestaltung, weil die Tonhöhe den Sprechern und Sprecherinnen überlassen wird, die sich mit ihrer "Melodie" aber doch in das gemeinsame Ganze einfügen müssen. Seine Orientierung am Text und am Sprechen gibt ihm zudem ein kommunikatives Element, ein Wunsch, sich mitzuteilen und verstanden zu werden, wo er sich nicht auf Sprachkunst und Lautmalerei konzentriert.

Aber der Sprechchor ist auch ein Stiefkind der aufführenden Künste. Trotz seiner (eben vermeintlichen) Einfachheit und Verständlichkeit führte er stets ein Schattendasein. Er wird kaum erforscht, da er Ursprung und Faszination aus dem Theater bezieht, als Institution dann aber zu einer konzertanten Einrichtung geworden ist. So sitzt er unbequem zwischen Stuhl und Bank von Theater- und Musikwissenschaft.

Einmal blühte der Sprechchor als Kunstform auf, tief verwurzelt in einer politischen Gemeinschaft, der sozialistischen, die das Verhältnis von Individuum und Masse neu zur Diskussion stellte. Er wurde beerbt und nachhaltig begraben von einer anderen politischen Gemeinschaft, der nationalsozialistischen, und der aus ihr hervorgegangenen Diktatur. Schon vor dem ersten Weltkrieg tauchten Sprechchöre an proletarischen (Jugend-) Festveranstaltungen auf. Die Revolution von 1919 verhalf dem Arbeitersprechchor dann zu unerreichter Popularität, und er breitete sich durch die Zwanziger Jahre rasant aus. Es gab unzählige Preisausschreiben für das Verfassen von Sprechchorspielen, zahlreiche Sprechchorschulungen und ab 1926 eine «Sprechchorzentrale des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit» der sozialdemokratischen Partei. Sprechchorleitfäden wurden publiziert und Kurse für Sprechchorleiter abgehalten, Kurse in Atem- und Stimmtechniken durchgeführt.

Woher diese plötzliche Konjunktur? Kein Zweifel: Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft wurde von der Arbeiterbewegung neu thematisiert, gegen das Konkurrenzverhältnis bürgerlicher Individuen setzte sie die Solidarität der Vielen. Was lag näher als eine Kunst der Vielen? Der bekannteste «Leitfaden für Sprechchöre» stammt von Adolf Johannesson. Für ihn etwa war das «kein Zufall, wenn heute der Sprechchor seine Wiedergeburt erlebt». Um aus der Geburt eine Wiedergeburt zu machen, um das Neue mit einer Tradition zu verknüpfen, griff er zu den Griechen als grosses Vorbild: «Das Volk stürzte seine Tyrannen, entriss dem Adel seine Vorrechte und die Leitung des Staates nahm es in seine eigene Hand.» Was folgerichtig zu einer neuen Kunst führte: «Nicht mehr Heldentaten einer bevorzugten Schicht wurden besungen, sondern auf den grossen Festen, die vom Staat angeordnet waren, verbunden mit den öffentlichen Gottesdiensten, war das Wirkungsfeld des Chores.» Das war es: Es ging um eine Eroberung und Erneuerung der Kultur, und die ging Hand in Hand mit der Erneuerung der Gesellschaft. Und zwar von unten. Die Vielen, das Wir eroberte den Platz, «die Masse», wie es in der Diktion der Zeit gerne hiess. An Stelle der Demokratie war bei Johannesson aber die «sozialistische Idee» getreten, hatte der attische Chor die Demokratie verkörpert, war der proletarische Sprechchor ein Zeichen der neuen, sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft.

Immer wieder hat die Entstehungsgeschichte, wie sie schon Aristoteles erzählt hat, fasziniert: Der Chor gebiert das Individuum, dem Chor tritt erst der Chorführer entgegen, aus ihm erwächst der erste Schauspieler, der Protagonist. Später kamen der Zweite und der Dritte hinzu - mehr wurden es nicht -, und die herausgetretenen Individuen wurden als Werk des Chores angesehen. Und da der Chor aus Athener Bürgern bestand, war es folgerichtig, dass er mit dem Niedergang der Demokratie auch an Bedeutung zu verlieren begann.

Aber es war nicht nur dieses Element der Basis, aus der die Kunst erwuchs, an der sich die Sprechchoraktivisten orientierten. Zweifellos war es ebenso sehr die Veranstaltungsform der Griechen, die sie faszinierte und die sie nachahmten. Dass ganz Athen zusammenkam zu einem heiligen Fest mit Umzügen und Opferritualen, aber vor allem mit Theateraufführungen (deren Besuch zu späterer Zeit sogar entschädigt wurde, dem Staat war der Theaterbesuch mindestens so wichtig wie heutigen Politikern die Wahlbeteiligung), mit denen jährlich in einem religiös-politischen Akt die Gemeinschaft der Polis beschworen und bekräftigt wurde. Die Veranstaltung war ein gottesdienstähnlicher Akt und die Akteure hatten einen priesterähnlichen Status. Und der Chor spielte eine prominente Rolle: Von Laien gespielt, stand der Chor als Vertreter des athenischen Volkes im Stück vor dem athenischen Volk, das als Fachpublikum zuschaute, denn fast ein jeder hatte bereits einmal in einem Chor mitgemacht. (Dass die Frauen von allem praktisch ausgeschlossen waren, hat in der Geschichte selten jemanden gestört, der sich davon begeistern liess.) In den Stücken selber war der Chor häufig stellvertretend für die Bürgerschaft zugegen und wandte sich auch direkt an das Publikum.

Diesen kultischen Charakter hatten die sozialischen Sprechchöre und ihre Schöpfer vor Augen, stets standen die Aufführungen im Mittelpunkt von Gemeinschaftsfeiern, die eine «neue Festkultur» hervorbringen sollten, in welche die gesamte Bevölkerung eingebunden war und in der das Volk zum Volk, die Masse zur Masse sprach. Oder in den Worten von Adolf Johannesson: «Sprechchor und Festgemeinde sind eins, weil der Sprechchor Teil des Volkes ist, das er repräsentiert, weil die Ideale des Volkes, ja, der ganzen Menschheit, die beiden innewohnen, künstlerisch gestaltet werden.» Den Optimismus und Elan hinter diesen Worten versteht man vielleicht besser, wenn man sich die Dimensionen vor Augen führt, die diese Aufführungen bzw. Feste gelegentlich erreichten: 1925 zum Beispiel führte der Hamburger Sprechchor im Stadtparkstadion unter der Leitung von Adolf Johannesson Bruno Schönlanks «Jugendtage» vor 100 000 Arbeiterjugendlichen auf, 1929 erlebten 80 000 Zuschauer eine Sprechchoraufführung am Parteitag der SPD in Magdeburg.

Entstehung und Blüte des Sprechchors war also eng mit einer Ideologie verknüpft, das Wir des Chors war immer auch das Wir der Zuhörenden, zusammengeschweisst als reale Gemeinschaft durch die gemeinsame Utopie einer neuen Gesellschaft. Oft genug wurde das im Sprechchor selbst thematisiert. In «Am Webstuhl der Zeit» von Felix Renker gibt es ein Vorspiel, in dem es heisst:

Halt mal da! Warum denn Sprechchor möchte ich euch fragen?

Muss es denn Sprechchor sein?

Gibt es nicht Schauspiel und Theater,

Gibt es nicht Kino auch? Gibt es nicht Tonfilm,

der uns in Bild und Wort das Zeitgeschehen näher bringt?

Doch nichts ist so gewaltig als der Sprechchor,

und nichts ist so gemeinschaftswachsend als wie er.

Zwei Welten sind’s, die im Theater sich und Kino trennen:

Die Welt der Spielschar und die Welt der Hörer!

Die Rampe ist die Schranke, die beide fühllos trennt.

Wir aber wollen, dass die Welt der Bühne, der Gemeinschaftsbühne

sich mit der Welt der Hörer in inniger Gemeinschaft fest verschmilzt.

In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre zeigte sich eine gewisse Krise. Politisch stabilisierte sich die Situation nach der Inflationszeit etwas, und in der Sprechchorbewegung stellte man sich immer mehr Fragen nach Qualität und Wirkung. Es brauchte jetzt etwas mehr Aufwand, um die Zuhörer bei Stange zu halten. Eine Theoriedebatte begleitete Erneuerungsversuche und Experimente. In zwei Richtungen zielte die Entwicklung: Zum einen kamen die Chöre in Bewegung, zum anderen unterstützte man sie mit dem Einsatz von Medien. Mit Hilfe von Dias und untermalender Musik ab Grammofon versuchte man, Dynamik in die Aufführungen zu bringen, oder man schnitt passende Szenen aus Filmen heraus, deren Projektion sich mit Sprechchorsequenzen abwechselten oder von ihnen begleitet wurden.

Auf der anderen Seite verband sich die Sprechchorbewegung mit der neuen Tanzbewegung. Speziell der Ausdruckstanz ohne Musik von Rudolf von Laban eignete sich durch den hohen Stellenwert, den der Rhythmus bei ihm wie bei den Chorwerken hatte. Ebenfalls half die Tatsache, dass viele Mitglieder der Sprechchöre bereits in Arbeitersportvereinen mitmachten und durchaus Interesse an gymnastischen und tänzerischen Bewegungselementen zeigten und darin bereits eine gewisse Übung hatten. Über erste einfache pantomimische Choreografien entwickelte sich der Sprechchor zum Sprechbewegungschor, die neue Verbindung führte nicht selten zu Aufführungen, die weit herum begeisterten und zu Einladungen von Sprechchorleitern als Regisseure an professionelle Bühnen führte.

Über eine weitere Entwicklung dieser Sprechchorbewegung zu spekulieren ist müssig, sie wurde 1933 durch das nationalsozialistische Regime verboten, sie tauchten auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr auf. In Deutschland hatte man zu lange und zu falsch im Chor gesprochen, das Wir war suspekt geworden.

Ein spezielles Nachspiel der proletarischen Sprechchöre waren die Thing-Spiele der Nationalsozialisten - abgeleitet von Thing, der germanischen Volksversammlung. Von 1933 bis 1937 tauchte dieses kultische Weihespiel auf, das häufig «Sprechchor» als Untertitel trug und an so genannten alten germanischen Thingstätten aufgeführt wurde. Nachdem es offenbar bereits einige erfolglose Versuche der Begründung völkisch-neuheidnischer Spiele gegeben hatte, schossen sie nun wie Pilze aus dem Boden. Ein Preisausschreiben für ein Thingspiel der Deutschen Arbeitsfront löste 1933 eine Flut von 10 000 Einsendungen aus.

Die Begründung für den Sprechchor lag auch hier ganz im Gemeinschaftsbildenden. Im «NS-Jugenddienst» von 1932 heisst es: «Wohl keine Dichtungsart ist so unmittelbarer Ausdruck einer Gemeinschaft wie der Sprechchor. Deswegen ist er das geeignete Mittel, als Brücke von Gruppe zu Gruppe, von Mensch zu Mensch innerhalb eines Volkes zu dienen.» Das Gemeinschaftliche wurde jetzt aber völkisch definiert. Das grosse Wir der Nationalsozialisten war die völkische Gemeinschaft. Das Thingspiel zielte auf dieses völkische Wir, nur waren die Begründungen diffuser. Einige griffen ebenfalls auf die alten Griechen zurück, um die Abkehr von Bildungs- und Unterhaltungstheater zu rechtfertigen, andere propagierten eine Rück­kehr zu den Germanen und dem Spiel in der Natur nach der Entfremdung durch die französische Bühne, von Predigt des Nationalsozialismus wurde gesprochen, von «Kultstätte des ewigen deutschen Wortes» u.a.m. Das Thingspiel sollte aber immer­hin so etwas wie die nationalsozialistische Theaterrevolution sein.

Nach nur vier Jahren verschwand das Thingspiel wieder ziemlich schnell, die Grün­de dafür sind umstritten. Rangeleien zwischen verschiedenen Kulturpolitikfraktionen der NSDAP, Hitlers persönliche Abneigung, das Ausschalten des sozialrevolutionären Flügels um die SA werden als Grund angegeben, dass die Thingspiele nicht mehr gefördert wurden, worauf sie von selbst verschwanden. Die Diktatur kehrte zur Unterhaltung zurück und wollte keine "revolutionäre" Kunst mehr.

Nach 1945 glaubte die «skeptische Generation» keine Parolen mehr, sie hatte genug von Ideologien und Massen. Das chorische Sprechen verschwand mehr oder weniger aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, auch die Neue Linke knüpfte kaum daran an. Erst die so genannte Postmoderne entdeckte das Chorische wieder für sich, jetzt aber mit umgekehrten Vorzeichen: Das Utopische einer neuen Gesellschaft war Ende der Siebzigerjahre obsolet geworden und der Einzelne, statt sich in ein Wir zu integrieren, löste sich selbst in eine Vielheit auf.

Hatte vor dem Zweiten Weltkrieg auch das Theater auf die Sprechchöre reagiert und selber grosse Chöre auf die Bühne gestellt oder Sprechchorleiter mit Inszenie­rungen betraut, so war es diesmal das Theater selbst, welches das chorische Spre­chen wieder neu aufgriff. Aber anders als im antiken Griechenland trat diesmal nicht der Protagonist aus dem Chor heraus, sondern er löste sich in ihm auf. Individuum zu sein schien und scheint nicht mehr möglich, ein Mensch wurde als eine Vielheit von Stimmen wahrgenommen, die in keine Einheit mehr integriert wurden, sondern die nebeneinander koexistierten, manchmal friedlich, manchmal apokalyptisch. Verschiedenste Theatermacher wie etwa der dieses Jahr verstorbene Einar Schleef oder AutorInnen wie Elfriede Jelinek orchestrieren dieses neue Verhältnis von Ich und Wir als Kampfplatz, auf dem sich die Kräfte der gegenwärtigen Gesellschaften kreuzen. An der Schwelle zum Zeitalter der neuen Medien, die den Ursprung einer Aussage in einem unsicheren virtuellen Feld verschimmern lassen, scheint der Sprechchor eine ganz neue Aktualität zu erhalten als eine künstlerische Forschungsstätte des heutigen Menschseins.

Erwin Künzli 2001

 

 

Literatur:

Detlev Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen 1999.

Henning Eichberg u.a.: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Stuttgart-Bad Cannstadtt 1977.

Ludwig Hoffmann/Daniel Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater 1918-1922. Berlin-DDR 1972.

The New Grove. Dictionary of Music and Musicians.

Uwe Hornauer: Laienspiel und Massenchor. Das Arbeitertheater der Kultursozialisten in der Weimarer Republik. Köln 1985.

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